Etwa 170 Chorbuchhandschriften umfasst die Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek. Im Interview erklärt der stellvertretende Leiter der Musikabteilung Jürgen Diet, welcher Aufwand dahinter steckt, 400 Jahre alte und monumentale Chorbücher zu digitalisieren und zugänglich zu machen.
Übersichtlicher Notensatz, möglichst handlich, leicht und optisch außenrum schick aufbereitet. So ist die heutige Erwartungshaltung an eine Sammlung von Noten verschiedener Lieder in einem Chorbuch. Die Technik macht’s möglich.
In früheren Zeiten funktionierte es natürlich nicht so einfach, jeder kennt bestimmt das ein oder andere handschriftliche antike Schriftstück von Bildern oder dem Museumsbesuch. Doch was da in den Archiven der Bayerischen Staatsbibliothek schlummerte, kann aufgrund der Ausmaße erst beim zweiten Hinsehen wirklich erfasst werden.
Musikhandschriften aus der Zeit des bayerischen Herzogs Albrecht V.
Sprechen Sie bei umfangreichen Romanen auch gerne von Wälzern? Dann muss die Einstufung dieses Wortes nach dem Anblick dieser Werke aus der Mitte des 16. Jahrhunderts vermutlich ein wenig relativiert werden. Handschriftliche Chorbücher mit einer Rückenhöhe von bis zu 60 Zentimetern und teils mehreren hundert Seiten Umfang sollten aus den Archiven den Weg an die Öffentlichkeit finden, also digitalisiert und der Nachwelt erhalten werden.
Keine leichte Aufgabe. Denn aufgrund des sehr hohen Alters sind die Chorbücher natürlich sehr empfindlich. So erfordert die Digitalisierung jeder Seite einen großen und akribischen Aufwand.
Wir wollten mehr über dieses Projekt erfahren und fanden im stellvertretenden Leiter der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek Jürgen Diet einen passenden Gesprächspartner.
Interview mit Jürgen Diet von der Bayerischen Staatsbibliothek
Herr Diet, was ist Ihre Aufgabe in der Bayerischen Staatsbibliothek?
In der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) bin ich der Koordinator für das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt „Fachinformationsdienst Musikwissenschaft“, bei dem wir verschiedene Dienstleistungen für Musikwissenschaftler, Musiker und Musik-Interessierte anbieten, u.a. das Portal „Virtuelle Fachbibliothek Musikwissenschaft“ (www.vifamusik.de) und das Internationale Quellenlexikon der Musik (http://opac.rism.info). Außerdem bin ich der stellvertretende Leiter der BSB-Musikabteilung.
Sie haben aus Ihrem Bestand ca. 170 Chorbuchhandschriften digitalisiert. Wie muss man sich den Umfang eines solchen Chorbuches vorstellen, wie viele Lieder sind dort enthalten und wie lange dauert es ungefähr ein solches Buch komplett digital verfügbar zu machen?
Großformatige Chorbücher haben eine Rückenhöhe von teils mehr als 60 cm und weisen ein Gewicht von bis zu 15 kg auf. Dabei kann der Umfang mehr als 400 Seiten betragen. Je nach inhaltlicher Anlage der Handschrift variiert die Anzahl der enthaltenen Werke; teils sind in den Handschriften nur einzelne Messvertonungen aufgezeichnet, bei weniger umfangreichen Gattungsformen können sich aber auch weit mehr als 100 Einzelwerke in den Handschriften befinden.
Bei der Digitalisierung der Chorbücher sind eine Vielzahl der unterschiedlichsten Arbeitsschritte notwendig: Von der ersten konservatorischen Prüfung über die eigentliche Digitalisierung bis hin zur Aufbereitung der Dateien für die Präsentation über unsere Online-Angebote kann dies einen Zeitraum von wenigen Wochen bis hin zu mehreren Monaten in Anspruch nehmen.
Teilweise 400 Jahre altes Papier – das kann man ja nicht einfach so auf einen Scanner legen?
Da haben Sie natürlich recht. Bevor diese wertvollen Bestände digitalisiert wurden, wurden sie von Mitarbeitern der Musikabteilung und des Instituts für Buch- und Handschriftenrestaurierung einer umfangreichen Sichtung unterzogen. Hierbei erfolgte eine konservatorische Schadenserhebung und Beurteilung jedes einzelnen Bandes, zu der auch die Bestimmung des maximalen Öffnungswinkel gehört, der beim Scannen nicht überschritten werden durfte. Bei den Chorbüchern mit starken Tintenschäden wurden aufwändige Restaurierungsmaßnahmen durchgeführt, bevor sie ins Scan-Zentrum der BSB weitergegeben wurden.
Haben Sie bei der Digitalisierung Chormusik gefunden, die auch heute noch aktiv gesungen wird? Oder wurden bereits Werke daraus neu aufgelegt?
Die Musik aus den Chorbüchern wird durchaus auch heute noch aufgeführt, z.B. von dem Brabant Ensemble aus England, das sich auf geistliche Chormusik aus der Renaissance-Zeit spezialisiert hat.
Wie unterscheidet sich der Notensatz in den Chorbüchern vom heutigen, modernen Notensatz?
Im Gegensatz zu einer modernen Chor-Partitur sind in einem Chorbuch aus der Renaissance-Zeit die einzelnen Stimmen nicht untereinander , sondern an verschiedenen Stellen auf einer Doppelseite notiert.
Das meist großformatige Chorbuch wurde auf einen Notenständer gestellt, und alle Choristen haben aus diesem einen Exemplar gesungen. Schauen Sie sich am besten einmal ein digitalisiertes Chorbuch an.
Ich empfehle das Prachtchorbuch, das im Jahr 1559 im Auftrag von Herzog Albrecht V. für die Schatzkammer des Bayerischen Fürstenhauses fertiggestellt wurde und 26 vier- bis achtstimmige Motetten des niederländischen Komponisten Cipriano de Rore sowie prachtvolle Buchmalereien von Hans Mielich enthält. Es ist einer der kostbarsten Schätze der Bayerischen Staatsbibliothek.
Vielen Dank für das Interview und den Einblick in Ihre Arbeit.
Die komplette Sammlung ist unter diesem Link digital verfügbar.
Es ist außerordentlich erfreulich, dass Chorheute über die Digitalisierung der Chorbücher der Bayerischen Staatsbibliothek berichtet und damit einer breiten musikinteressierten Öffentlichkeit bekannt macht, dass altes Notenmaterial (nicht nur) aus der Münchner Hofkapelle des 16. Jahrhunderts problemlos öffentlich zugänglich ist. Die Chorbücher sind mir seit vielen Jahren bestens vertraut, da ich in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften für die Fertigstellung der Gesamtausgabe der Werke des bayerischen Hofkapellmeisters Orlando di Lasso zuständig bin; die Digitalisierung des Notenmaterials, aus dem Lasso und seine Sänger musiziert haben, erleichtert deren Benutzung wesentlich.
Einige Anmerkungen zum Beitrag seien dennoch erlaubt: Zunächst irritiert die den Artikel eröffnende Abbildung: Es handelt sich um gedruckte Stimmbücher des 16. Jahrhunderts der Bayerischen Staatsbibliothek (die übrigens ebenfalls online einsehbar sind), bei denen jeder Sänger (vergleichbar etwa heutigen Orchestermusikern) nur seine Stimme vor sich hat, während ein Chorbuch alles gleichzeitig Erklingende in Einzelstimmen auf Doppelseiten enthält. Insofern ist auch die Abbildung aus dem Chorbuch Mus.ms. 79 (das aus der Münchner St. Michaelskirche in die Staatsbibliothek kam) irreführend, als es sich nur die rechte Hälfte einer Doppelseite handelt, zu sehen ist also nur die Hälfte dessen, was gleichzeitig erklingt.
Zu Missverständnissen kann außerdem die Frage nach dem Notensatz von Chorbüchern im Unterschied zu heutigem Aufführungsmaterial für Chöre führen. Chorbücher wurden in den wenigsten Fällen gedruckt, überwiegend sind sie handgeschrieben. Der Grund dafür ist einfach: Aus einem Chorbuch des 16. Jahrhunderts kann ein ganzer Chor singen, die Absatzmöglichkeiten sind also eher gering. Dies drückt die Auflagenzahlen und treibt den Preis in die Höhe, zumal die Herstellungskosten von Haus aus enorm waren, da ja eigene, großformatige Typen für den Druck angefertigt werden mussten. Da war das handschriftliche Erstellen von Chorbüchern allemal billiger; schließlich standen in Hofkapellen wie der Münchner exzellente Notenschreiber zur Verfügung, etwa Franz Flori, einer von Lassos Hauptkopisten. Letztlich zielte die Frage nicht nach dem Notensatz, sondern auf das Layout.
Trotzdem hat mich der Artikel gefreut. Als weiterführende Lektüre möchte ich einen von mir verfassten Bericht über die Tagung „Für Auge und Ohr. Die Chorbücher der Bayerischen Staatsbibliothek“ hinweisen, bei der Chorbücher unter verschiedensten Aspekten von Fachleuten aus aller Welt diskutiert wurden. (Vgl. http://www.badw.de/fileadmin/pub/akademieAktuell/2016/59/AA_0416_Buch_fin-low.pdf, dort S.35-39; abgebildet ist eine Doppelseite aus Mus.ms. B, ferner (S.39) die Darstellung eines aus einem Chorbuch singenden Chores aus Mus.ms. C der Bayerischen Staatsbibliothek.) Die Tagung war von der Koordinatorin des Chorbücher-Digitalisierungsprojekts Dr. Veronika Giglberger und dem Projektmitarbeiter Bernhard Lutz initiiert und organisiert worden.
Bernhold Schmid